Zwei Wochen in Kanada, primär, um meine Freunde Esra und Paul zu besuchen.
Zwischenstop in London. Dort angekommen warte ich in einer langen Schlange, um durch den Sicherheitscheck in das Terminal zu gelangen. Unter den wartenden Personen fällt kaum ein Wort. Emotions- und ausdruckslos lädt eine Frau im mittleren Alter das Handgepäck zur Durchleuchtung auf das Förderband. Als ich an die Reihe komme, sage ich fröhlich „Hello“. Damit scheine ich sie irgendwie aus dem Konzept zu bringen. Zuerst sieht sie mich etwas erstaunt an, dann huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Ein unverständliches aber wohlwollend klingendes „Mhmhmmhhhm“ gleitet über ihre Lippen. Kurz darauf blickt mir dieselbe Ausdruckslosigkeit wie vorhin entgegen. Ich gebe meinen Rucksack auf das Förderband und befinde mich Minuten später im Terminal 4 des Flughafens.
Der Feueralarm lärmt nun schon seit ungefähr fünf Minuten. Hinter einer der zahlreichen Türen könnte ein Höllenfeuer lodern, trotzdem zeigen die Warnlaute keine sichtbare Wirkung auf das Verhalten der Passagiere – mich inbegriffen. Möglicherweise, weil kein erkennbares Zeichen von Gefahr vorliegt. Manche laufen, wohl mit der Hoffnung doch noch etwas Aufregendes vor die Linse zu bekommen, mit ihrer Kamera durch die Gegend, einige Babys weinen in den Armen ihrer Mütter. Von Sicherheitskräften werden wir in aller Ruhe mit Anweisungen dann doch aus dem Gefahrenbereich entfernt.
Wenige Stunden später setzt das Flugzeug hart in Montreal auf. Kurz darauf folgen die üblichen Fragen bei der Passkontrolle. Woher kommen Sie? Was machen Sie hier? Wo werden Sie übernachten? Beim Rausgehen bin ich ein wenig unsicher. Was erwartet mich in Bezug auf Esra? Nach neun Jahren treffen wir das erste mal wieder aufeinander. Ich habe sie 1996 in der Türkei auf der Maturareise kennengelernt. Esra ist aus der Türkei und lebt und studiert (2005) in Montreal. Die Begrüßung ist freundlich und ich nehme mir vor die nächsten zwei Wochen ohne Erwartungen und Vorstellungen einfach auf mich zukommen zu lassen.
Esra und Paul (Esra’s Freund) bringen mich zur Jugendherberge ‚Auberge Chez Jean’.
Auf den Straßen laufen viele verkleidete Personen rum. Halloween würde ich mit Fasching in europäischen Breiten vergleichen. Auf der Party treffe ich auf ein Cowgirl, Cassandra, welches sich später in eine Prinzessin verwandelt.Der Kern von Montreal liegt um den kleinen Berg Mont Royal.
Auf den ersten Blick macht Montreal den Eindruck einer ‚üblichen’ nordamerikanischen Stadt. Der Großteil der Straßen ist schachbrettartig angelegt. In der Stoßzeit herrscht ein Gewühl an Menschen und Autos. Montreal hat ca. 1,8 Mio. Einwohner – 3,8 Mio., zählt man den Großraum dazu und liegt eigentlich auf einer Insel, welche von den Flüssen ‚St. Laurent’ und ‚Riviere des Praires’ umgeben ist.
Über die Namensgebung der Stadt streitet man sich. Am Fuße des Berges gab es eine Indianersiedlung des Wyandot Volkes, bis dort im 17. Jahrhundert von den Franzosen eine Handelsniederlassung gegründet wurde. Die ersten Einwanderer, die den Berg erklommen, waren vom Ausblick, der sich ihnen bot, so überwältigt, daß sie den Berg ‚Mont Royal (Königlicher Berg)’ nannten. Eine andere Theorie lautet, daß ein Geldgeber des Entdeckers Jacques Cartier mit Familiennamen ‚Montereale’, die Namensgebung beeinflusst hat. Der Berg spielt auch heute noch eine große Rolle. So darf zum Beispiel kein Gebäude höher gebaut werden als der Berg.
Der Aufstieg auf den ‚Mont Royal’ ist ziemlich mühsam – für mich zumindest. Auf halbem Weg mache ich an einem Aussichtspunkt halt, um mich von den Strapazen zu erholen und den herrlichen Ausblick auf die Stadt zu genießen.
Außer dem Stadtzentrum mit einigen Hochhäusern ist die Skyline ziemlich flach. Im Hintergrund und von fast überall zu sehen befindet sich das olympische Stadion (Sommerspiele 1967). Ungefähr 10% der Stadt sind geschützte Grünflächen und viele der Straßen sind mit Bäumen gesäumt. Zu dieser Zeit gibt die Stadt ein farbenfrohes Blätterspiel.
Mont Royal verlassend gelange ich nach dem Abstieg in den englischen Teil der Stadt. Ich lande in McKibbins Pub in dem Theresa ihr Regiment führt. Zur Mittagszeit sind ein Großteil des Publikums Stammgäste, leicht daran zu erkennen wie die Kommunikation verläuft. Theresa wirkt ein wenig gestreßt, hat jedoch alles unter Kontrolle – auch ihre Gäste. Ein Widerspruch wird schnell niedergeschlagen. Das Essen sieht lecker aus.
Neben dem riesigen kulturellen Angebot, es gibt eine Unzahl an Museen und Galerien, ist Montreal auch ein Paradies für kulinarische Genießer. Über 5.000 Restaurants, Bars, Pubs, Kantinen … aus über achtzig Ländern bieten für jeden Gaumen etwas. Bei manchen Restaurants, Bars, Bäckereien, die bekannt oder In sind, bilden sich lange Schlangen. Die Leute warten geduldig, auch wenn es bitterkalt ist.
Bei einem Frühstück in einem der zahlreichen Bistros werde ich an den Film ‚Dinner for One’ erinnert. Eine der Servierkräfte stolpert immer wieder über denselben Stuhl. Nach dem Frühstück fahren Paul und Esra mich durch Montreal. Paul erweist sich als ausgezeichneter Fremdenführer der mich mit jeder Menge Information über Geschichte und Kultur überschüttet.
Nach ein paar Tagen finde ich mich in meiner nahen Umgebung schon ziemlich gut zurecht. Habe ich mich am Anfang noch an großen und markanten Punkten orientiert, bleiben jetzt auch viele ‚Kleinigkeiten’ hängen … Straßennamen, Geschäfte, Restaurants, … . Den Vormittag verbringe ich in einem Cafe, um die lokale Presse zu studieren. Die Zeitungen sind im Großformat. Der erste Teil wird von lokalen Themen beherrscht. Zwei Einzelschicksale von erstochenen jungen Leuten, über die ausführlich berichtet wird. – Ein 27jähriger Mann der versehentlich von einer Gang ermordet wurde, weil er angeblich am Mord eines Gangmitglieds beteiligt war. Sein lautes Lachen und froher Lebenssinn wird mehrmals hervorgehoben. – Ein 17jähriger Junge, der ebenfalls in einem Gang-Streit ums Leben gekommen ist. Die Mutter bestreitet, daß ihr Junge jemals irgendetwas mit einer Gang zu tun hatte. – Außerdem scheint ein Regierungsskandal im Ausmaß von etwa 250 Mio. Dollar, in dem auch der Prime Minister involviert ist, einige Aufregung zu verursachen.
Wenn die Lust am herumlaufen vergeht oder es Abend wird, lande ich immer wieder in irgendeinem Pub. Diesmal in der Nähe der Jugendherberge. Dunkles aber gemütliches Ambiente. Kunstvoll gestaltete Erotikfotos in schwarz-weiß an den Wänden, in rötlicher Farbe gehaltene Aufnahmen von Pop-Musikern. An einigen der Tischen diskutieren Personen in zweier bis vierer Gruppen lautstark – an der Bar stehend und auf Hockern sitzend, weitere. Ein älterer Mann mit schwarzer Baskenmütze schläft, vornübergebeugt, den Kopf auf seinen verschränkten Armen, an einem der Tische mitten im Raum. Vor ihm ein leeres Glas und eine leere Flasche Bier. Niemand beachtet ihn. Es muß etwa eine Stunde vergangen sein, als er aufwacht. Er trinkt eine weitere Flasche Bier und verschwindet dann.
Auch ich mache mich auf und wechsle ins Bistro á JoJo, einer Jazz und Blues Bar, in der beinahe jeden Abend eine Band spielt. Eine Frau, ich schätze sie in den fünfzigern, die mich aufgrund ihrer Frisur ein wenig an Tina Turner erinnert, sitzt regungslos an einem Tisch. Sie hat eine Sonnenbrille auf. Anfangs denke ich, sie ist blind, werde jedoch eines besseren belehrt, als sie sich zielsicher durch das Lokal bewegt.
Auf einer Leinwand läuft B.B. King und James Brown. Es handelt sich um ältere Aufnahmen. Ein junger natürlicher Michael Jackson hat einen Gastauftritt. Er hält sich im Publikum auf und scheut auch den Körperkontakt nicht.
Ich wechsle ein paar Worte, über meine Herkunft und was ich hier mache, mit einem Mann, der sich später als Drummer, der an diesem Abend spielenden Band ‚Uncle Groove’ herausstellt.
Tags darauf verbringe ich ein paar Stunden im Museum der zeitgenössischen Art, wo unter anderem eine Foto- und Multimedia-Ausstellung über die Entwicklung von Lebensräumen gelaufen ist. Kunst liegt im Auge des Betrachters, vor allem wenn man wenig über den Künstler weiß.
Am Bahnhof kaufe ich ein Ticket nach Quebec City, wo ich ein paar Tage verbringen möchte. Auf dem Weg dorthin sehe ich eine Frau, die ihre Katze an der Leine spazieren führt. Am sträubenden Verhalten der Katze ist leicht zu erkennen, daß sie keinen Spaß daran hat.
Zum Abendessen bei Esra eingeladen gibt es leckere Spaghetti und Zeit um sich über die Vergangenheit zu unterhalten. Später kommen Ivo und Olivia vorbei und wir gehen noch in eine Bar. Nachdem ich gegen Mitternacht vor meiner Jugendherberge absetzt werde, treibt mich meine Schlaflosigkeit wieder ins Bistro a Jojo, welches ich gegen drei Uhr früh betrunken verlasse. Drei noch betrunkenere Typen, etwa in meinem Alter, von denen einer über Montreal schwärmt und fast keinen klaren Gedanken fassen kann, und einer mich immer und immer wieder über meine politische Gesinnung fragt – Bist du Sozialist? Bist du Anarchist? Oder vielleicht Kommunist? – begleiten mich nach Hause. Ich bin in guter Gesellschaft.
Der alte Hafen wird von einer vor sich dahinrostenden Siloanlage beherrscht. Wie ein riesiges Monster ragt das Gebäude in den Himmel. In den 1920ern luden hier Schiffe Getreide auf ihrem Weg zu den Great Lakes oder zum Atlantik. Als die Eisenbahn an Bedeutung zunahm, hielten die Schiffe mit der Zeit immer weniger.
In manchen der riesigen Hafenbecken ist nur wenig Wasser vorhanden.
Dort wo es zusammengeronnen ist, staken Möwen pickend herum und Enten jäten auf der Suche nach Futter mit klickenden Geräuschen durch den Schlick. Ein Teil des Hafens wurde zur Erholung wieder reaktiviert und lädt zum Spazieren, Radfahren und auch Bootsfahrten ein.
Samstag Abend werde ich von Olivia zu Ivos Geburtstagsfeier abgeholt. Olivia ist eine vor Worten sprudelnde emotionsgeladen Frau. Wir fahren zu Christine um sie abzuholen. Bei Christine angekommen müssen wir noch eine Weile warten, weil diese noch nicht fertig ist. Olivia erzählt mir, daß sie immer wieder Probleme mit ihrer Batterie hat, was sich kurz darauf, als Christine kommt, auch bewahrheitet. Der Wagen läßt sich nicht mehr starten. Verzweifelt versucht Olivia den Schlüssel aus dem Zündschloss zu ziehen, was nicht klappt, weil die Gangschaltung noch immer auf „Drive“ steht. Da Olivia und Christine französisch sprechen, bekomme ich überhaupt nichts mit. Nach etwa fünfzehn Minuten halten wir einen Wagen auf und bitten den Fahrer uns mit Starterkabeln zu helfen. Wir haben an der Autobatterie noch Schwierigkeiten den +Pol vom –Pol zu unterscheiden, weil diese nicht wirklich erkennbar waren und schließen die Starterkabel natürlich falsch an. Da auf diese Weise schon mal die Hauptsicherung meines Autos durchgebrannt ist, mache ich mir Sorgen das Auto überhaupt noch zum Laufen zu bringen. Doch nach mehreren Versuchen klappt es, worauf wir erleichtert unseren Weg fortsetzen und einen netten Abend auf Ivos Geburtstagsfeier verbringen.
Auf dem Bahnhof warte ich auf die Abfahrt nach Quebec City. Das Service läßt nicht zu wünschen übrig. Schon eine Stunde vorher stehen einem Bedienstete, die an Großvater erinnern hilfreich zur Seite. Großes Gepäck wird eingecheckt. Durch Stiegen, die zu den Bahnsteigen führen, gelangt man in den Bauch des Bahnhofes, der die Züge beherbergt. Das Platzangebot und der Komfort der Sitzplätze für die einzelnen Passagiere läßt eine angenehme Reise erwarten. Im Rückwärtsgang verlassen wir das Gebäude, bevor wir nach einem kurzen Stop die Richtung ändern und eine Stimme den Beginn der Reise ankündigt. Wir tauchen in eine herbstliche Landschaft.
Quebec City ist die einzige Stadt in Kanada die von einer Stadtmauer umgeben ist. Der Kern wurde von der UNO zum Weltkulturerbe ernannt. Die manchmal bis zu 400 Jahre alte Architektur vermittelt einen gewissen Charme. Steinhäuser, Kirchen und enge Gassen.
Der Wind zieht mit einer unangenehmen Stärke durch die Gassen, in den Parks treibt er die Blätter vor sich her und der erste gefrorene Schnee sticht wie tausend kleine Nadeln in mein Gesicht. Die Geschäfte bereiten sich langsam auf die Weihnachtszeit vor.
Die eisige Kälte lädt überhaupt nicht zum herumspazieren ein, trotzdem wage ich mich nach draußen um ein paar der Sehenswürdigkeiten, die ‚Citadelle‘, ein Fort, daß von den Briten nach dreißigjähriger Bauzeit fertig gestellt wurde, ‚Chateau Frontenac‘, ein imposantes Hotel für Eisenbahnpassagiere die hier einen Zwischenstop einlegten, … zu besuchen.
Nach drei Tagen geht es wieder zurück nach Montreal wo ich die letzten Tage mit meinen Freunden ausklingen lasse.